Als die Mauer fiel

Das Magazin Einsichten + Perspektiven

Gestern lag die Zeitschrift in der Post: Magazin „Einsichten und Perspektiven“ (Veröffentlichung der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit) mit einer Leseraktion. Man könne Beiträge zum Thema „Wie ich den 9. November 1989 erlebt habe“ einreichen. Da dachte ich, das mache ich! Update: Der Text wurde inzwischen veröffentlicht.

Hier das Resultat:

Wie ich den 9. November 1989 erlebt habe.

Damals war ich 28 Jahre alt und lebte zeitweise in der Gegend bei Stuttgart mit meinem ersten Mann, einem schwäbischen Bildhauer. Dieser arbeitete auch gemeinsam mit Künstlern der DDR an einem Kunstprojekt. Das Projekt sollte einen Austausch zwischen BRD- und DDR-Künstlern ermöglichen.

Am 9. November warteten wir auf die Ankunft von drei Künstlern, die mit dem obligatorischen Trabi von Ostberlin anreisen sollten. Das Abendessen war schon vorbereitet, wir schauten noch etwas fern und plötzlich kamen diese Bilder. Sätze, die ich kaum verstehen konnte, weil sie für mich in dem Moment keinen Sinn ergaben und jubelnde Massen, auf der Mauer tanzend. Was ist das, fragte ich mich, ein Spielfilm? Nach einigen Minuten wurde uns bewusst, dass die Mauer gefallen war! Ich fühlte in diesem Augenblick nur Verwirrung. Der Bildhauer knipste den Fernseher aus und beschloss, ihn erst am nächsten Morgen zum Frühstück anzumachen.

Auch als PDF online kostenlos zu haben (Link unten)

Die Reise hatte lang gedauert; die Reisenden hatten an der Grenze nichts bemerkt. Und so verbrachten wir den Abend des 9. Novembers mit den frisch eingetroffenen Freunden ohne das Thema anzusprechen. Im Nachhinein finde ich dieses „Spiel“ etwas grausam. Am nächsten Morgen saßen wir vereint am Frühstückstisch. Man unterhielt sich, während der Fernseher lief. Zwischendurch blieb der Blick eines der Gäste an den Bildern der feiernden Massen hängen. Plötzlich verstummten alle und schauten wie gebannt auf den Monitor. Nach der ersten stummen Verblüffung fingen die Tränen an zu fließen. „Ist das wahr?“, fragten die Gäste. Einer sagte: „Die machen die Grenze garantiert heute Abend wieder dicht.“ Dann kam die Freude und explodierte.

Euphorisiert ging ich hinaus und traf eine gleichaltrige Nachbarin. Strahlend sprach ich sie an: „Hast du gesehen, die Mauer ist gefallen!“ Sie schaute mich ernst an und antwortete: „Und? Was hat das mit uns zu tun?“ Dieser Satz wirkte auf mich wie eine kalte Dusche. Inzwischen weiß ich, dass es Menschen gibt, die Grenzen brauchen. Und andere, die sich freuen, wenn diese fallen.

Wenige Wochen nach dem Mauerfall wanderte ich nach Italien aus und kam erst im Jahr 2002 nach Deutschland zurück. In das vereinte Deutschland, das ich erst 13 Jahre nach seiner Entstehung kennenlernte.

Mehr Info zum Magazin:

https://www.km.bayern.de/ministerium/politische-bildung/magazin-einsichten-und-perspektiven.html

9 Gedanken zu “Als die Mauer fiel

    • Vielen Dank, lieber Pit. Ich hatte nur noch selten daran gedacht. Aber die Aufforderung des Magazins, darüber zu erzählen, hat mir Lust gegeben, es zu erzählen. Ich bin Jahrgang 61 und merke, dass ich langsam in ein Alter komme, in dem ich auch meine Erfahrungen erzählen kann, weil mir plötzlich bewusst wird: sie gehören zur Geschichte 🙂

      Gefällt 1 Person

      • Gern geschehen, liebe Nadia. Apropos Jahrgang 61 und Mauer: ich war gerade in London, als die Mauer gebaut wurde. Als 14-jaehriger und noch dazu im Ausland habe ich davon wenig mitbekommen, aber meine Eltern haben sich Sorgen gemacht um mich.
        Liebe Gruesse,
        Put

        Like

  1. Deine Geschichte hat mich sehr berührt. Das Schlimme ist nur, dass ich noch immer bei Menschen aus der ehemaligen DDR eine unsichtbare Mauer beobachte. Von wem aufrecht erhaltene? ? ? Wir müssen noch immer Steine abtragen, will mir scheinen. Herzlichst Marie

    Gefällt 1 Person

  2. Sehr interessant. Danke. Ich selbst lebte damals schon 10 Jahre in Griechenland und erinnere mich überhaupt nicht an den Tag. Wir hatten damals keinen Fernseher.Vermutlich hörten wir es im Radio. ich freute mich natürlich sehr, es war ein Wunder. Denn ich kannte die Mauer seit ihrem Entstehen, bin oft mit der S-Bahn auf die Ostberliner Seite gefahren, besuchte dort auch einen Bekannten, der direkt an der Mauer wohnte. Die Fenster zum Westen hin waren zugemauert. Ich kannte auch etliche Menschen, die geflohen waren, angefangen bei meinen Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten, die es noch kurz vor dem Mauerbau schafften, bis hinzu einer Freundin, die durch einen Tunnel entkommen war.
    Und trotz der Freude war ich, glaube ich, damals schon unruhig: wie würde sich ein wiedervereinigtes Deutschland in Europa aufführen? Sehr groß war es, es würde die kleineren ersticken oder mit Arroganz behandeln. Es würde erneut versucht sein, den Ton anzugeben. Was dann ja auch geschah.

    Gefällt 2 Personen

    • Danke für deinen interessanten Kommentar, liebe Gerda. Ich kenne das Argument, „Oh weh, schon wieder „Großdeutschland““ gut, weil ich kurz danach in Italien war und auch Frankreich große Ängste hatte. es gibt so viele Sichten auf die Wiedervereinigung wie es Menschen in Europa gibt, denke ich. LG, Nadia

      Gefällt 1 Person

  3. In mir wirkt besonders der zitierte Satz „Und, was geht mich das an“, nach. Diese Einschätzung habe ich schon von einigen Westdeutschen gehört, für die die Maueröffnung keinerlei Änderung ihres Alltagslebens bedeutete.
    Sehr interessanter Beitrag und ich denke gerade auch wieder viel über diese Zeit nach; nochzumal ich gerade den empfehlenswerten Roman von Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ lese. Vielleicht kennst Du ihn?
    Herzliche Grüße
    Ines

    Gefällt 1 Person

    • Danke für deinen Kommentar und die Literaturempfehlung, liebe Ines. Ich kenne das Buch nicht, werde mal bei Gelegenheit danach schauen. Ich hatte auch nur noch ganz selten daran gedacht, bis die Aufforderung dieses Magazins kam. Es ist ja so, dass sich tatsächlich fast alle, die damals schon der Kindheit entwachsen waren, noch an diesen Tag erinnern können. Also wo man da war, wie man es erfahren hat, was man dabei gedacht hat… Bin schon gespannt auf die nächste Ausgabe dieses Heftes, weil darin eine Auswahl von Leser-Eindrücken veröffentlicht werden wird. Lieben Gruß, Nadia

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar