Heimatgeschichten – Der ertrunkene Jüngling – 1855

Illustration: Nadia Baumgart

Heimatgeschichten – Der ertrunkene Jüngling

Wieder eine Geschichte aus dem Zeitungsarchiv, diesmal aus dem Katholischen Sonntagsblatt von 1855.

„Am 9. Januar verkündete das Trauergeläute der Pfarrkirche Birnbach das Begräbniß eines im Wasser verunglückten Jünglings. Es war der Taglöhnerssohn Seb. Schlehuber von Ried. Er hatte sich am 2. Jan. bei einem Gefährd, das über die seicht überlaufene Rothbrücke setzen wollte, hilfreich erwiesen und dabei, indem er zwei im Wagen stehende Personen aus der Gefahr retten, und das Pferd über die Brücke führen wollte. Unglücklicher Weise selbst, sammt dem Pferde über die Brücke fallend, in die reißenden Wellen seinen frühen Tod gefunden. Erst am Feste der heiligen Dreikönige wurde seine Leiche eine halbe Stunde unterhalb der Brücke aufgefunden und zu seinem Dienstherrn, dem Schmiedmeister in Schweibach gebracht. Er war eine Zierde des Birnbacher Bundes gewesen; deshalb brachten die Jünglinge von dort, sowie von Trieftern, St. Johannskirchen und Egglham seine Leiche, die Bundesfahne voraus, von Schweibach nach Birnbach, und senkten sie unter frommen Gebeten in das geweihte Erdreich. Indem wir hiermit den verstorbenen auch in das Gebet der übrigen Bünde empfehlen, können wir gleichwohl für die Hoffnung seines ewigen Heiles die besten Trostgründe bieten. Schlehuber war seit den tagen der Mission (1847) eifriges Bundesmitglied gewesen, und war noch Tags vor seinem Tode schon allerfrühst um 3 Uhr aufgestanden, um erst seine Arbeit im Stalle zu verrichten und dann in die Kirche zum hl. Sakramente der Buße und des Altares zu eilen. Nachmittags war er nach Ried zu seinem Bruder und Verwandten gekommen, um auf solche Weise dort, freilich unbewußt seines frühen Todes, Abschied zu nehmen. Seht, so sorgt der liebe Gott für seine Erdenkinder! Auch im Unglück bleibt er ihnen ein liebender Vater, und läßt ihnen alle Dinge zum Besten, zum ewigen Heile gereichen.“

Es klingt hier fast so, als müsse der ertrunkene junge Mann sowie seine Freunde und Familie für seinen Unfalltod dankbar sein. Das liegt wahrscheinlich an der Zeit: 1848 scheiterte die „Revolution“, die Wiederherstellung der konservativen politischen Zustände und Herrscherverhältnisse ist nun an der Tagesordnung. Die katholische Kirche ist in dieser Zeit besonders darum bemüht, alles „revolutionäre Gedankengut“ zu unterdrücken.

Heute würde man den jungen Mann ehrlich betrauern und Brücken vor dem Hochwasser schützen, anstatt sich bei dem Herrgott für seinen frühen Tod zu bedanken.

Bemerkenswert ist auch, wie dieser Text einen Einblick in die damaligen Arbeitsverhältnisse gab. So musste der junge Mann schon um 3 Uhr morgens aufstehen, den Stall misten und die Tiere versorgen, dann war er in die Pfarrkirche gegangen, um danach seine Verwandten in Ried zu besuchen und ist später zurück nach Schwaibach gegangen, wo sein Dienstherr wohnte. Somit ist er mindestens zwanzig Kilometer zu Fuß gelaufen, bevor er den Tod in der Rott fand. Heute klagen wir über zu wenig Bewegung…

Quelle: Katholisches Sonntagsblatt. 7. 1855 ## 21.01.1855

Heimatgeschichten – Schwierige Schicksale

Ein gehörloser junger Mann im 19. Jahrhundert

Vor einiger Zeit hatte ich angefangen, in digitalisierten Zeitungsarchiven nach „Heimatgeschichten“ zu suchen, in denen Birnbach vorkommt, diese mit Kommentaren zu versehen und zu illustrieren. Nach den Themen „Bahnverspätung 1901“ und „Eine lokale Kriminalgeschichte aus fernen Zeiten – 1847“ möchte ich heute eine Meldung des Königlich-bayerischen Kreis-Amtsblatt der Oberpfalz und von Regensburg vom 11.05.1872 näher betrachten.

Hier geht es um einen taubstummen jungen Mann, der in Birnbach aufgegriffen wurde. Dank der Beschreibung können wir die Person regelrecht „sehen“, als würde sie vor uns stehen. Vorab möchte ich darauf hinweisen, dass der Begriff „Taubstummheit“ und das Wort „taubstumm“ heute aufgrund der historischen Diskriminierung Gehörloser als veraltet gelten. Ein wertneutraler Begriff im deutschsprachigen Raum ist „gehörlos“.

Im Königlich-Bayerischen Kreis-Amtsblatt erschien also am 11. Mai 1872 folgende Meldung:

„Am 3. April 1872 wurde in Birnbach, Bezirksamt Grießbach, die unten näher beschriebene Mannsperson wegen Bettels aufgegriffen, welche teubstumm ist und sich in keiner Weise verständlich machen kann. Die bisher gepflogenen Heimaths-Recherchen waren erfolglos. Die obengenannten Behörden werden beauftragt, nach Namen, Stand und Heimath der fraglichen Person geeignet Nachforschungen einzuleiten und ein sachdienliches Ergebniß sofort dem k. Bezirksamt Griesbach mitzutheilen.

Regensburg den 2. Mai 1872.

Königl. Regierung der Oberpfalz und von Regensburg, Kammer des Innern. Von Pracher, Präsident.

Signalement: Alter: 22-23 Jahre alt, Größe: 5‘ 10‘‘, Haare braun. Stirne nieder, Nase breit, Mund geregelt, Kinn spitzig. Bart blond (kleiner Anflug), Zähne gut. Besondere Kennzeichen: ohne.

Kleidung: Alten grauen Hut, einen leinenen alten Spenser[1] mit gelb gedruckten Blümchen versehen schon ziemlich stark mit wollenen Flecken geflickt und mit gelb messingenen und schwarzbeinenen Knöpfen besetzt; eine alte, blaue, rupferne Hose, schon stark geflickt; eine alte, wollene Weste, lange, alte, zerrissene Wadenstiefel, Hemd keines.“

Diese genaue Personenbeschreibung hilft, sich diesen Menschen vorzustellen. Aber es keimen auch viele Fragen auf. War der bettelnde junge Mann der Sohn eines Tagelöhners, eines Handwerkers oder eines Bauern? War er mit dem Gesetz in Konflikt geraten? Und wie sah eigentlich die Lebenssituation der Gehörlosen in dieser Zeit aus?

Zwar waren „Taubstumme“ die erste Behindertengruppe in Bayern, denen eine spezielle Förderung zuteil wurde. Seit 1817 sollte jede bayerische Kreishauptstadt über eine Taubstummenanstalt verfügen und es gab längst Taubstummen-Vereine. Allerdings sah die Situation auf dem Lande ganz anders aus. Immer wieder wurden in den Amtsblättern „unbekannte Taubstumme“ gesucht, nämlich nicht identifizierbare gehörlose Landstreicher und Bettler.

„Demgegenüber stehen „unbekannte Taubstumme“ (S. 124–143), zu denen gehörlose Landstreicher und Bettler gehörten, deren Identitätsfeststellung nach einer Verhaftung in Bayern nicht glückte.“ (Quelle: H-Soz-Kult – Fachinformationsangebote des Vereins Clio-online – Historisches Fachinformationssystem e.V.)

Man kann sich vorstellen, dass der beschriebene junge Mann kein leichtes Leben hatte. Wie es mit ihm weiterging, darauf gibt es keine Hinweise.

Dafür findet sich eine Mitteilung über einen weiteren „Taubstummen“ in Birnbach in einem etwas früheren Artikel des Königlich-Bayerisches Kreis-Amtsblatts von Oberbayern vom 4. Juli 1868. Hier geht es um ein gehörloses Kind:

„Einen in Birnbach aufgegriffenen taubstummen Knaben betreffend.

Da die von der unterfertigten Stelle unterm 6. August 1867 angeordneten Recherchen bemerkten Betreffs […] bisher erfolglos geblieben sind, so werden die sämtlichen Distriktpolizeibehörden angewiesen, die Nachforschungen nach der Herkunft des dort beschriebenen Knaben neuerdings aufzunehmen, sorgfältig zu verfolgen und die etwaigen Ergebnisse dem Bezirksgerichte Griesbach mitzutheilen.“

Hier habe ich mich gefragt, ob dieses Kind vielleicht sogar von seinen Eltern ausgesetzt worden war. Möglicherweise war es gar ein Waisenkind.


[1] Als Spenzer wird eine eng anliegende, taillenkurze Jacke für Damen und Herren bezeichnet. In früheren Epochen und noch heute bei Trachten wird der Begriff auch allgemein für Jacken verwendet. (Quelle: Wikipedia)

Quellen:

Königlich-bayerisches Kreis-Amtsblatt der Oberpfalz und von Regensburg (Königlich bayerisches Intelligenzblatt für die Oberpfalz und von Regensburg) 11.05.1872

Königlich-bayerisches Kreis-Amtsblatt von Oberbayern vom 4. Juli 1868