Nationalparks und Urwälder

Gibt es bei uns Urwälder? – Teil 1

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Was ich vor kurzem dachte…

Zugegeben, was ich vor wenigen Jahren noch dachte, war nicht immer auf meinem Mist gewachsen. Das ist bei Gedanken eben so. Man übernimmt sie; man liest etwas und denkt es weiter; man lässt sich von Texten und Bildern in Tourismus-Broschüren, Wanderführern und Infozentren beeinflussen.

Wenn wir solch ein Thema dann vertiefen, weil es uns interessiert, fügen sich immer mehr widersprüchliche Informationen zusammen, bis wir irgendwann ganz neue Gedanken bilden und anfangen, uns ein eigenes Bild zu machen. Aber lasst mich von Anfang an beginnen. Der Anfang, das war für mich im Jahr 2016, als ich mit meinem Mann nach Niederbayern zog. Gleich wollte ich unsere Nachbarschaft erkunden und verliebte mich augenblicklich in unsere Gegend und die Landschaften im Nationalpark Bayerischer-Wald/ Böhmerwald.

Mein Ziel ist es NICHT, die Nationalparks schlecht zu reden! Vielmehr will ich versuchen jenseits von Tourismus-Broschüren und Marketing-Schlagwörtern zu verstehen, wie die wunderschöne Natur und die Landschaften, die dort entstanden sind, sich entwickelt haben. Ich möchte mit offenen Augen und glaubwürdiger Information durch diese Region, die ich liebe, wandern.

Hier möchte ich in vier Episoden, die ich in den nächsten Wochen veröffentlichen werde, vier Fragen beantworten, die ich mir selber gestellt habe.

Was ich also über die Natur in unseren angrenzenden Nationalparks (Bayerischer Wald und Sumava) so dachte, war natürlich geprägt von der Information, die mir anfänglich zugänglich war. Diese enthielt vier Glaubenssätze:

Glaubenssatz 1: Der URWALD

In den Nationalparks sind ursprüngliche, beinahe unberührte, wilde, geradezu mystische – noch vor kurzem von Bären und Wölfen durchstreifte – Wälder zu entdecken. „Ein einzigartiges Urwaldparadies“, das versprechen die Broschüren. Rotwild, Luchs und Birkenhuhn ziehen leise durch das Gebüsch.

Gibt es wirklich diese „Urwald-Reste“?

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Was ich mich inzwischen frage – Neue Erkenntnisse

Nach vielen Wanderungen, eigenen Naturbeobachtungen, Museumsbesuchen, der ausgiebigen Lektüre von historischen Zeitungen in Onlinearchiven und des Buches „Böhmerwaldskizzen“ dessen deutschböhmischer Autor Karel Klostermann (1848 – 1923) die Gegend im 19. Jahrhundert beschreibt, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht doch ganz anders ist. Und stellte mir Fragen. Hier die Erste:

Was ist eigentlich ein URWALD? „Als Primärwald oder Urwald wird ein von menschlicher Einflussnahme nicht berührter Wald bezeichnet“, verrät Wikipedia. Ein kleiner Teil der Amazonas-Wälder dürften mit Fug und Recht „Urwälder“ genannt werden.

Allerdings könnten auch urwaldähnliche Wälder nach Rodungen und menschlichen Einflüssen entstehen. Das sei nur eine Zeitfrage. Aber wie viel Zeit braucht die Natur, um wieder „wild“ zu werden? „In der gemäßigten Zone, wo die Bäume wegen des Winters nur 5 oder 6 Monate im Jahr wachsen, dauert es etwa 10 Jahrhunderte“, vermutet die Gesellschaft des französischen Botanikers Francis Hallé.

10 Jahrhunderte? 1000 Jahre also? Der Nationalpark Bayerischer Wald wurde ja erst 1970, der Nationalpark Šumava auf tschechischer Seite sogar erst im Jahr 1991 gegründet…Vorher wurde der Wald auf vielfache Weise genutzt, das werde ich in den nächsten Beiträgen erläutern. Selbst die unberührtesten Teile wurden gegen 1870 Opfer des Borkenkäfers.

Ich zitiere hier aus dem Passauer Tagblatt : Organ für die Interessen des Mittelstandes. 1874,7/12 ## 25.08.1874

„Aus dem Böhmerwalde, 19. August 1874, schreibt man der „Presse“: Der einzige mitteleuropäische Urwald am Moldau-Ursprung, in einer Ausdehnung von zirka 50 Joch, welcher bis jetzt als Bannwald von der Axt verschont blieb, ist bereits verschwunden, er fiel als Opfer des winzigen Borkenkäfers.“

Erkenntnis 1: Unsere Nationalparks sind KEINE Urwälder.

Unterwegs unter dem „grünen Dach Europas“

Aus den „Böhmerwaldskizzen“ von Karel Klostermann, geschrieben 1890:

„Und dann noch etwas: die Neuzeit nivelliert. Die Reisenden haben es jetzt bequem, und man braucht seiner Liebe zur Natur keine Opfer mehr zu bringen: die gefällige Maschine enthebt uns aller Unbequemlichkeit und setzt uns mitten hinein in die Freistätten der Natur. Freistätten? Sie haben vielfach aufgehört, es zu sein, seit sie so leicht zugänglich sind. Die Maschine fragt nicht, sie bringt gleichgültig die sonderbarsten Kostgänger des Herrn, die uns den Genuss verleiden; sie bilden eine sonderbare Staffage der Gegend. Nicht einmal die hallenden Schläge der Axt hörst du mehr, denn sie haben schon alles umgehauen, die praktischen Menschen, was einst dastand; dafür kannst du unter Glockengeläute des gewissermaßen nur mehr als künstlerische Staffage dienenden Weideviehes folgende Gespräche belauschen.

»Woher beziehen Sie den Moschus?« – »Was heißt beziehen, erzeugen ihn selber.« – »Kennen Sie G. H. Schwarzstein in Podebrad? Ist er gut?« – »Für 10 000 fl. ist er immer gut; wollen Sie ihm mehr kreditieren, so ist das Ihre Sache, ich tu’s nicht.« – »Papa, das ist der Urwald, nicht wahr?« fragt ein bleichsüchtiger Backfisch einen gelbsüchtigen Herrn, auf dem der Aktenstaub noch zu liegen scheint, der wie grauer Novemberreif seinen borstigen Schnauzbart überzieht. »Ja, mein Kind, das ist der Urwald«, sagt zerstreut der Papa und denkt der Akten, deren nimmer endender Stoß sich während seines achttägigen Urlaubes zu doppelter Höhe aufgetürmt haben wird. »Ja, das ist der Urwald«, bestätigt der Fremdenführer, ein etwa fünfzehnjähriger Bursche in veritablen Stiefeln, der schon solche Fortschritte in der Zivilisation gemacht hat, dass er mit innerer Beschämung der Zeiten gedenkt, wo er die ersten drei Finger seiner Rechten als Schnupftuch verwendete, wogegen jetzt der Rockärmel zu dieser wichtigen Funktion avanciert ist: Der »Urwald« aber besteht aus einem kaum zehnjährigen Bestand, der kümmerlich fortvegetiert, weil ihm alljährlich der Frost die Triebe wegbrennt und die Aufforstung im Böhmerwalde ohne den Schutz höherer Bäume nur mühsam vonstattengeht.“